五行
zu Steine aus Gold von Kai W. Reinschmidt
Ist es Abend? Ist es Morgen? Welche Sonne? Was sie weiß: Ich liege am Ufer des Orangeozeans, den ich eben noch Bett nannte. Sie übergibt sich seinen Wogen und Tönen, die das Fensterglas brechen. Ja, es war richtig gewesen, die Wand weiß zu lassen. Immer weiß. Immerweiß. Niewiederweiß, mischt sich der Orangozean ein. Ich will eintauchen, sagt sie. Sie steigt aus dem Bett. Sie steigt über die Schwelle. Sie steigt die Stufen hinab. Sie sind unbekleidet, sagt der Nachbar. Nein, nackt, sagt sie, ich gehe tauchen. Auf dem Hof lauert der Schrecken. Der Orangeozean hat sich zurück gezogen! Aber nein, sieht sie, der Häuserhorizont hält den Orangeozean zurück. Das Häusergeviert hat sich gegen die Welt „Draußen“ abgeschlossen. Der Orangeozean lässt sich nicht zurückhalten, ruft sie hoch hinauf in den Hof. Die Wände werfen Schatten ihrer Stimme zurück. Echolot. An einer Stelle bricht die Stimme. Das Tor!
Ein Schacht folgt seinem Gitter. Hingegen der Orangeozean fließt durch den Schacht und gießt sich weit in den Hof. Über die Kopftsteine, über die Wandziegel, über das Fachwerk, über den Putz. Im Fachwerk hängt schwarz der Nachtschatten des Hoftors. Im Schattengitter findet sie den Nachtvogel wieder. NUR im Schattengitter. Im Schmiedewerk des Hoftors sitzt kein Vogel. Kein Morgenvogel. Kein Nachtvogel. Er hat seinen Schatten abgelegt, sagt sie. Sie taucht durch das Tor, sie taucht in den Schacht – sie taucht in den Orangeozean. Sie taucht hinaus in die Stadt. Sie taucht hinaus hinaus hinaus hinaus aus der Stadt hinaus ins Freie hinaus. Einen Atemzug lang hält sie inne und blickt zurück. Der Schatten des Nachtvogels. Er hat sich an sie gehängt. Wann habe ich meinen Schatten abgelegt, fragt sie, breitet die Arme und traut ihren Augen nicht. Der Schatten, ihr Schatten, der Nachtschatten trägt Flügel. Ihren Ohren traut sie: Ich singe. Sie singt. Sie singt singt singt und fällt.
Ist es Abend? Ist es Morgen? Welche Sonne? Was sie weiß: ich liege am Ufer des Orangeozeans.
Sie haben sich einen Flügel gebrochen, sagt die Alte am Ufer.
Atem, sagt sie.
Sie haben lange geschwiegen, sagt die Alte.
Mühe, sagt sie.
Ihrem Hinterleib fehlen Schuppen, sagt die Alte.
Mühe mit atmen, sagt sie.
Das ist die Luft, sagt die Alte.