Am Haken
Fortsätze zu einem Bild von Ulrike Wodner und Orhan von Carmen Winter
– Und die Frau Herr Koffer? Wo ist sie auf dem Bild?
– Unerreichbar., sagte Herr Koffer
– Der Stern? Sie ist jener Stern?
– Ja, für mich… unerreichbar… weit entfernt. Aber sie ist mir immer noch sehr nah. Sie wird mir immer nah sein, gleich wie weit entfernt sie ist.
– Sie lieben sie, nicht wahr?
– Hm. Aber…
Und Herr Koffer begann zu erzählen. Zweimal die Woche war er mit dem Regionalexpress zum Muttersitz der Firma gefahren, um dort seiner Arbeit nachzugehen. Die Rechner dort liefen schneller. Überhaupt lief alles in dieser Stadt schneller, als zu Hause. Anfangs fühlte er sich diesem Tempo nicht gewachsen, doch genoss er es irgendwann. Er merkte, dass er nichts tun musste als mit dem Strom zu schwimmen. Es ähnelte der virtuellen Welt. Ein Meer virtueller Realität. Er schwamm und schwamm und schwamm und blieb unvermittelt wie ein Fisch am Haken eines roten Wollfadens hängen. Der dunkelrote Wollfaden eines dunkelroten Wollkleides. Zuerst sah er nur den Rücken des dunkelroten Wollkleides. Jener Rücken war voller Bewegung, aber Herr Koffer konnte den Impuls der Bewegung nicht sehen. So trat er näher. Langsam;- zu langsam und er wurde ein paar Mal angerempelt, herum geschubst, beinahe umgestoßen, weil er jetzt quer zum Strom schwamm. Er konnte nicht anders. Er hing am Haken und das dunkelrote Kleid holte langsam seine Leine ein. Schließlich war er ganz nah und sah, es malte. Vielmehr malte sie. Drei Männer mit Rollkoffern hatte sie im Blickfeld und malte, wie sie sie sah. Herr Koffer stand eine Weile und sah zu wie die Männer mit den Rollkoffern auf dem Papier Form und Farbe annahmen. Er sah an sich herab. Er sah den grauen Anzug, den er nur trug, wenn er in die Strommetropole reiste. Er sah seine Hand am Griff des Rollkoffers, mit dem er nur dorthin reiste. Er sah den Stern.
– Sie tragen ein schönes Kleid, hörte sich Herr Koffer sagen. Er konnte es kaum glauben. Der Haken im Maul hatte ihm wohl selbiges aufgerissen, dass er sagte, was er im Leben nicht ohne Haken herausgebracht hätte.
– Danke, sagte das dunkelrote Kleid. Es drehte sich Herrn Koffer zu und er sah ihre Augen. Sie glichen dem Stern, den sie gemalt hatten.
– Das sind schöne Sterne, sagte er.
– Ich habe doch nur einen gemalt., sagte sie
– Ich meine… also… ihre… ihre… ihre Augen.
– Ach, das ist sehr höflich von Ihnen., sagte sie.
– Nein ehrlich… also… ich meine es ehrlich.
Eine Weile hatten die beiden geschwiegen.
– Setzen Sie sich doch auf Ihren Rollkoffer, sagte sie, bleiben Sie ein wenig hier. Sie können mir bei der Arbeit zusehen und wir können uns ein wenig unterhalten.
Das taten sie seit diesem Tag zweimal die Woche. Herr Koffer wusste nicht, warum sie ihm nie zuvor aufgefallen war. Und in der Mutterfirma fiel sein Fehlen nicht auf. Das kränkte ihn. Aber all das war ihm gleich, wenn sie da war und er bei ihr sitzen konnte. Er saget seltse ein Wort. Manchmal las sie ihm vor. Texte und Gedichte, die sie selbst geschrieben hatte, auch alte überlieferte Texte, die sie nicht selbst geschrieben. Manches klang sehr fremd, aber schön wie die Sprachlandschaften, in denen er sich verlorenn hatte. Meist drehten sich die Worte um Liebe. Herr Koffer stockte mit seinen Erzählungen.
– Und?, fragte Orhan
– Ich dachte… sie… die Worte… ich dachte sie… mir…, sagte Herr Koffer
– Und?
– Ich war nur der Rezipient ihrer Liebe.
– Sie haben ihr nie gesagt, dass Sie sie lieben?, fragte Orhan, sie sind… sind…
– Höflich., sagte Herr Koffer
– Dämlich., sagte Orhan
– Sie liebt einen anderen Mann. Das kann ich doch nicht…
– Kaputt machen?, fragte Orhan
– Ja, das kann ich nicht kaputt machen., sagte Herr Koffer. Hätten Sie ihre Augen gesehen, Sie verstünden, dass niemand diese Liebe kaputt machen kann und nicht darf. Sie ist einzigartig. Sie ist unverwüstlich.
– Wie die Ihre., sagte Orhan
– nur unerwidert. Also nein… ach ich weiß nicht… nur, dass ich sie ganz fühle, obgleich sie halb scheint.
– Sie sind nicht nur ein Nerd, Herr Koffer.
Das erste Mal schwiegen die Männer, weil sie gestritten hatten. Herr Koffer lief in der Hütte auf und ab. Wütend. Verwirrt. Verrückt. Verliebt. Der Chitinpanzer in seinem Inneren hatte einen Riss bekommen und das dunkelrote Kleid zwängte sich hindurch, dass der Riss größer und größer wurde. Roter Stoff quoll ihm in die Augen, in die Ohren, sein Blut raste. Es nahm ihm den Atem. Herr Koffer riss die Tür auf. Ein kalter, kräftige Wind fuhr in die Hütte. Herr Koffer merkte weder seine Kälte noch seine Kraft. Er lief durch des Schneezeitlabyrinth. Vielleicht hatte Bokoku einen Rat. Ein Wort. Irgendetwas, das Herr Koffer jetzt brauchte. Das ihm half. Vor der Lärche angekommen, versuchte er zu Atem zu kommen. Der Wind verschlug ihn ihm. Da holte er seine Mundharmonika hervor und begann zu spielen. Schiefe Töne, vom Wind zerrissen, ohne Zusammenhang, ohne Harmonie, aber mit dem Mund aus dem Bauch heraus. Stetig kam wieder Atem in ihn. Plötzlich ließ er ab vom Spiel und der Atem stockte wieder. Worte sah er an seiner Stiefelsohle kleben. Schief und zerrissen: „Wenn der Mante“ las er und wusste, dass er sie kannte, diese Worte, diese Handschrift, dass er sie schon einmal gehört hatte, jene Stimme und er wusste, welche Worte, was ihnen folgte und was voran gegangen war. Er kannte den Rest dieser Zeile, der noch immer auf Schritt und Tritt an seiner Stiefelsohle verbrogen klebte
– Bokoku, wo kommen die Worte her?