Der Krug geht
Sie ist herausgeschlüpft. Abgesprungen. Herausgetreten aus dem Tageslauf, aus dem Lebenslauf, aus dem Lauf der Dinge. Sie ist dem Lauf der Dinge entronnen und steht auf ihren schmalen Füßen. Mitten auf dem Weg. Der Weg hatte sie jeden Tag zwischen ihrem Haus und ihrer Arbeit hin- und wieder zurückgebracht. Jetzt steht sie hier. Es ist ein besonders schönes Stück des Weges. Eine Abkürzung zwischen zwei großen Straßen. Nicht jeder kann sich auf einem solch schönen Weg hin und wieder zurück bewegen. Die Abkürzung führt an Gärten vorüber. Kleine Gärten. Wo die Menschen Gemüse und Obst anpflanzen. Wo sie an den Wochenenden vor Lauben sitzen, mit Kaffeegeschirr klappern und Sprühsahne auf Obstkuchen verteilen. Dies war die kürzeste Strecke ihres ansonsten langen täglichen Weges, aber die hatte sie am meisten gemocht. Nur jetzt ist sie ausgestiegen, weggetreten auch von dem täglichen Weg.
Der Lauf der Dinge hatte sie selbst zu einem der Dinge gemacht. Als Ding brauchte sie keinen langen Atem, keine Luft. Der Krug geht solange zu Brunnen, bis er bricht. Sie wäre solange hin- und wieder zurückgegangen, bis sie gebrochen wäre. Beinahe. Wäre ihr nicht in der Nacht der Schlaf abhanden gekommen. Wäre ihr nicht plötzlich der Weg unter den Füßen ins Wanken geraten. Wäre ihr nicht plötzlich das Wort von den Lippen geflohen, jedes Wort. Da saß ihr die Angst im Leib. Da saß sie im Leib der Angst. Und die Frau hörte auf, Ding zu sein. Plötzlich steht sie im Freien. Im freien Zeitraum. Plötzlich ist ihr wieder schwindelig, anders schwindlig, schwindlig von so viel Luft und Atem. Aber als Mensch braucht sie Luft und Atem. Und sie, sie braucht sogar einen ganz besonders langen Atem. Beim Lauf der Dinge war vom Atem nie die Rede gewesen, nur vom Takt, von Intervallen, vom Ziel und vom Tempo. Und wie sie jetzt einen Fuß vor den nächsten setzt, jetzt, dem Bruch gerade noch einmal in einen freien Zeitraum entschlüpft, entsprungen sozusagen, wie sie also langsam geht – sieht sie, dass sie von der Abkürzung einen falschen Weg genommen hat. Einen Abweg. Den kennt sie nicht. Der führt sie hinter die Gärten. Die liegen nun seitwärts des Weges. Auf der anderen Seite ist offenes Brachland. Weit. Die Gärten, als fürchteten sie die Brache, ducken sich hinter einer hohen Hecke. Und die Hecke ist wild und wuchert…- und hängt mit Früchten voll. Das fällt der Frau erst jetzt auf. Da sind wilde Pflaumen und Himbeeren. Die ersten in diesem Jahr. Es sind erst wenige reif – aber die, diese wenigen reifen Früchte, die pflückt sie sich. Und es werden, je länger sie hier steht und pflückt, immer mehr reife Früchte, die sie entdeckt im dichten Gesträuch, das nur dem Weg gehört und keinem der Gärten. Pflaumen gelb und blau, rund, weich und warm von der Sonne. Längst kleben zarte Himbeerkügelchen am Kleid der Frau, so weit hat sie sich in die Büsche geschoben.
Als Kind hatte sie nicht abwarten können, bis die Himbeeren endlich reif gewesen waren. Sie hatte nicht anders gekonnt und schon die frühreifen Früchte aus der dornigen Hecke geklaubt. Jetzt konnte sie warten. Sie würde wieder herkommen. – Schon Morgen vielleicht.
Als Kind hatte sie auch diese wilden runden blauen und gelben Pflaumen geliebt. Sie war in die Zweige geklettert und hatte sich den Bauch gefüllt mit Sommersüße inmitten des heißen Atems der Wiesen am Fluss.
Jetzt leckt sie den süßen klebrigen Saft von den Händen. Heiß atmen die Wiesen der Brache neben ihr. Der weite Himmel liegt still auf dem Meer aus Grillengezirp und Bienensummen. Die Frau spürt den langen Atem. Und spürt ihre Füße fest auf dem Weg. Der unbekannte Weg führt direkt nach Haus.