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eine Art Anbaugebiet

Die Frau im Gehäuse

zu alte und neue schichten von Kai W. Reinschmidt

 

Wann genau der Wunsch geweckt worden war, wusste sie nicht. Ebenso wenig wusste sie, wie viel Zeit sie ins Land gezogen hatte, dass der Wunsch so groß werden konnte. Am 16.04.2014 war der Wunsch aus dem Dunkel zu Tage getreten. Genau um 6:15Uhr. Die Kirchglocken machten die Zeitbestimmung möglich. 23 Jahre hörte sie die Glocken zur gleichen Zeit. Immer um 6:15Uhr. Im Grunde war es auch immer der gleiche Ort, an dem sie die Glocken hörte. Aber eben nur im Grunde. Der Ort veränderte sich mit der Zeit. Oder die Zeit veränderte den Ort. Oder der Ort veränderte die Zeit. Oder es gab keine Zeit. Hatte nie Zeit gegeben. Nur die Glocken, den Ort und den Raum.

 

Ihr Blick war auf das winzige Gehäuse gerichtet. Es schwebte hoch über dem Ort. Es schwebte im Raum. Es schwebte zwischen den Glockentönen. Das Haus des Kranführers. Zerbrechlich wie ein Schneckenhaus mutete es an. Zerbrechlich, aber voller Anmut und unglaublicher Kraft. In diesem Gehäuse wünschte sie von Stund an zu leben. Ja, im Grunde veränderte sich der Ort, dachte sie, als der Blick von dem Haus in der Höhe auf das Haus in der Tiefe fiel. Eine Grube, die im vorderen Teil der Baustelle ausgehoben war. Die Grube geriet ihr zum Verhängnis. Sie geriet ihr zur Bewusstseinserweiterung, die sich breit vor ihr auftat. Gleich einer Berggrube waren Zeitschichten freigelegt. Ziegelsteinmauern, die ungleich abgetragen, den Grundriss eines Hauses, den Verlauf von Wohnungen verrieten. Sie verlief sich in ihrem Verlauf. Vom Bauzaun aus machte sie Farbtupfer aus. Fliesen vermutete sie. Ein Metallofen. Nur sein unterer Teil, der Fuß stand noch in der Ecke zwischen zwei Mauern. Hier hatten Menschen gebadet. Kinder und Alte. Nackt waren sie in das warme Wasser gestiegen. Hatten sich Tage, Stunden, Schichten von der Haut gewaschen. Arbeit. Sie hatten sich mit diesem wohligen Gefühl der Wärme Wunden gesalbt. Sie kannte diese Art von Ofen und die Wärme, die er verströmte. Nicht nur im Wasser. Nicht nur im winterkalten Bad. Nicht nur diese Wärme heizten Menschen mit dem Ofen an. In ruhigem Ton nannte sie es Liebe, setzte sich auf eine nahe gelegene Parkbank und badete in dem Gefühl, das jetzt Besitz von ihr ergriffen hatte. Die Wärme war Widerspruch pur. Sie ließ Gänse über ihre Haut laufen. Sie wartete. Worauf? Dass die Gänse gingen. Weiter oder fort. Hatten die Glocken inzwischen Zeit geschlagen? Eine weitere? Einen neue? Einen andere? Die Kollegen würden heute umsonst auf sie warten. Sie würden sich sorgen. Nie war sie unpünktlich. Nie war sie auffällig. Nie war sie krank zu Hause geblieben. Heute hatte nie ein Ende und einen Anfang. Nie würde sie dorthin zurück kehren.

 

Während sie auf der Parkbank wartete, schoben sich die Zeitfugen ineinander. Die Vergangenheit hob sich auf mit jedem Grad, den die Sonne höher über den Horizont steigt. Gegenwart scheint hindurch. Die Grube vor ihr tut kein Loch auf. Sie schließt eine Lücke. Eine Nichthauslücke. Sie steht im Raum wie jenes vergangene Haus. Mit jeder Schicht, die der Grund offen legt, ruft es aus der Grube: Hier hat ein Haus gestanden. Leben.

 

Das Treiben der Baustelle nimmt sich auf. Es entlässt sie aus dem immer währenden Tun. Sie beobachtet wie Kleintransporter Männer herbei fahren. Den Kennzeichen nach kommen sie aus aller Herren Gegend. Sie denkt an die Männer, die sie jeden Morgen an der Straße hat stehen sehen, noch bevor ein Sonnenstrahl zu ahnen war. Die Parallelen zu den Frauen an den Straßenrändern der Welt kann sie nicht beiseite schieben. Prostitution, denkt sie.

 

Das Gehäuse hoch oben im Krangestell nimmt Fahrt auf. Sie ist enttäuscht, weil es keine vollkommenen Kreise zieht. Es wendet sich zwischen Ost und West. West und Ost. Hin und her. Eine halbe Karussellfahrt nur. Dafür kreisen ihre Gedanken in vollen Runden um die Grube, in der sich eine Handvoll Menschen sammelt. Regen. Es gefällt ihr, wie vorsichtig sie sich zwischen den Mauern bewegen. Einer kratzt mit dem Spachtel an den Steinen und legt die nächsten Schichten mit einem weichen Pinsel frei. Eine Frau misst, markiert und notiert etwas in einem Buch. Dann zeichnet sie auf Millimeterpapier, das in einem Holzrahmen auf ihren Oberschenkeln liegt. Ja, es gefällt ihr, dass sich diese Menschen dem Leben vorsichtig nähern – mit einer unglaublichen Genauigkeit. Sie erträgt es nicht länger am Rand zu sitzen und zuzusehen. Sie geht.

 

Sie geht in das Haus, das sie vor wenigen Stunden noch zu Hause genannt hatte. Im Keller sucht sie nach dem Rucksack. Er ist unter Schichten von Leben vergraben. Schichten ihres Lebens. Sie räumt beiseite, stapelt neu, baut ab und um und auf und findet endlich den Rucksack. Sie probiert, ob er ihr noch passt. Er passt. Aber passt er noch zu ihr? Sie baut erneut ab und um und auf und holt den alten Wandspiegel hervor. Sie stellt ihn auf den Stapel Winterreifen. Ja, der Rucksack passt ihr. Er steht ihr sogar ungeheuer gut, findet sie. Genauso hatte sie ihn getauft: Ungeheuer. Sie hatte es lieben gelernt auf den langen Wanderungen über Wochen und Berge. Nur sie und das Ungeheuer. Es wird ihr die Kleider, die bis heute morgen Alltag gewesen waren, nicht verzeihen. Das weiß sie. Das fühlt sie dem Ungeheuer nach. Absatz um Absatz macht es sich unmissverständlich.

In der Wohnung stellt sie das Ungeheuer neben den Sitzsack. „Ihr passt gut zusammen“, sagt sie. Langsam füllt sie das Ungeheuer. Es braucht nicht viel für eine Nacht. Für die erste. Das lässt Platz für Leerstellen. Sie zurrt die Gurte zusammen, dass das Ungeheuer aus der Form gerät. „Du bist faltig geworden.“, sagt sie. Das Ungeheuer gerät aus dem Gleichgewicht und droht umzukippen. Der Sitzsack fängt es.

Sie legt die alten Alltage ab. Die Wochen- und Bergkleider sind eng geworden, aber sie sind tragbar. „Da sind wir wohl beide ziemlich aus der Form geraten, was?“

 

Wie füreinander gemacht, denkt sie, als sie das Ungeheuer durch die Stadt zur Baustelle trägt. Alles wie füreinander gemacht. Das Treiben auf dem Bau zieht sich ins ich zurück. Zeit für sie, aus sich heraus zu treten. In den Abend. In die kommende Nacht. In die Nichthauslücke. Sie folgt den kniehohen Mauern in der Grube. Weilt einen Augenblick am Badeofen. Er wärmt nicht mehr. Auf den Mauerresten gegenüber steht ein Weckglas. Ein Etikett. Seine Schrift ist Fragment. Unlesbar für den Augenblick.. Das Glas aber ist unversehrt. Birnen. Sie schüttelt das Glas. Die Früchte schweben eine Weile im Wecksaft, sinken auf den Grund des Glases und bleiben ruhig liegen. Birnen. Die Gehäuse hat eine Hand gekonnt entfernt. Entkernt, denkt sie. Entkernt wie die Häuser meiner Stadt. Wie meine Stadt. Die alten entkernten Früchte gibt sie dem Ungeheuer zu tragen. Zusammen streben sie am Krangestell aufwärts. Bis ins Gehäuse über der Stadt unter dem Himmel. Irgendwo dazwischen.

 

Es ist eng im Gehäuse. Sie holt Schlafsack und Isomatte aus dem Rucksack. Stellt die Thermoskanne mit dem Kaffee für den nächsten morgen neben den Brotbeutel. Stellte den Wecker auf 4:32Uhr. Stellt das Weckglas daneben. Als sie sich in den Schlafsack rollt, stupst sie das Weckglas noch einmal an. Es weckt Wünsche. Birnen. Baum. Gänse. Garten. Ernte. Weckt. Entkernt. Die Früchte sinken hinab. Sie ruhen am Grund. Sie im Gehäuse: Wochen- und Bergkleider in einem Nachtkokon aus Mikrofaser – oben im Grunde – irgendwo dazwischen.

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