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eine Art Anbaugebiet

Die Singflut

Nie hatte das Kind jemand sprechen hören. Deshalb hielt jeder im Dorf es für stumm. Auch dumm nannten es der eine oder andere. Es wunderte deshalb nicht, dass es sich mit Vorliebe im Wäldchen am Faulen See aufhielt. Das Kind konnte stundenlang am Ufer stehen und sehen wie die Angler auf ihre Posen starren. Fische, das war allgemein bekannt, fing nie ein Mensch in diesem See. Doch das hielt die Angler nicht ab, wieder und wieder die Angel auszuwerfen. Im Gegenteil. Die scheinbare Unmöglichkeit, einen Fisch zu fangen, zog sie magisch an. Sie werfen die Angeln aus, setzen sich in ihre Klapphocker, starren auf die Posen und versinken im Anglerlatein. Ein tiefes Schweigen, in dem sie gründeln. Das Kind mag die verstockte Art der Angler. Je hielt es sie für Menschen eines Stammes, zu dem auch das Kind sich gehörig fühlte. Wenn es doch endlich das Mannesalter erreichte!
Als das Kind auf den Findling trifft, weiß es, er hat den Weg nur für ihn zurück gelegt. Dass es sich an ihm abarbeiten kann. Die Initiation. Der Weg aus dem Anglerlatein, führt durch den Stein. Das Kind läuft in den naheliegenden Schuppen. Hammer, Meißel und… nein, den braucht es eigentlich nicht. Er ist trocken und unfruchtbar geworden. Das Kind nimmt den Ährenkranz trotzdem mit, weil er irgendwie dazugehörte. Wie der Zirkel.
Es lärmt im Wäldchen am Faulen See, als das Kind beginnt am Findling zu arbeiten. Anfangs war das Klingen von Hammer und Meißel wie der Klang einer fernen Welt. Bald aber gehörte dieser Klang in das Wäldchen. Wie die Angler, der Findling, das Kind. Es weiß die Form genau, die den Findling bestimmt. Das Kind höhlt den Stein. Tief wie das Anglerlatein. Höhlt und höhlt und höhlt es. Es ist die Zeit Nester zu bauen. Es kommt die Zeit zu brüten, die Zeit zu schlüpfen, die Zeit flügge zu werden. Schnee nistet in den Nestern und wieder ist Zeit, ihm neue zu bauen. Jene Zeit fällt mit der Bestimmung des Findlings zusammen. Das Kind legt die Werkzeuge beiseite. Es betrachtet seine Arbeit. Es ist zufrieden. Ein Boot. Ein Findlingsboot. Ein Name! Das Findlingsboot braucht einen Namen. Das Kind zirkelt ihn in den Bug. Ein Mal in jede Seite. Das Kind wassert sein Boot. Es zweifelt keinen Augenblick, dass das Wasser es tragen wird. Auch als es sein Boot besteigt, trägt das Wasser. Das Kind trägt den Ährenkranz. Es trägt ihn auf dem Kopf. Er hebt sich kaum vom gealterten Weizenblond ab. Als das Kind ablegt, heben die Angler ihren Blick. Nur kurz lassen sie ihre Posen aus dem Auge. Blicke aus Ewigkeiten, die kurz darauf wieder in die Augenhintergründe abtauchen. Doch bald schon tauchen sie wieder auf. Dabei könnten sie dort bleiben. Doch sind sie in diesem Sinn derart verhaftet, dass Zeit wird und wird und wird, bis sie verstehen: es sind die Ohren. Es sind die Ohren, denen sie nicht trauen. Das Kind singt. Das Kind singt kein Lied. Das Kind singt lose Töne. Rhythmus bindet sie. Eine Melodie. Gezeitengleich tritt des Kindes Gesang über das Ufer des Faulen Sees, um sich wieder in seine Mitte zurückzuziehen. Tritt über das Ufer. Zieht sich in seine Mitte zurück. Tritt über das Ufer des Sees. Zieht sich in seine Mitte zurück. Tritt über das Ufer des Sees, umspült die Füße der Angler. Zieht sich in seine Mitte zurück. Das Kind singt. Heidnische Gesänge. Heidnische Gesänge: knöchelhoch. Heidnische Gesänge: fadentief. Heidnische Gesänge: kniehoch. Fadentief. Bis zum Bauchnabel. Dann steht den Anglern der Gesang bis zum Hals. Einem läuft das Herz über. Er stimmt ein. Singt wie er es nie für möglich gehalten hätte. Singt wie das Kind. Von den anderen Zweien geht ratlos ihr Anglerlatein. Der Gesang, der Heidnische hat Dämme brechen lassen. Immer tiefer dringt dies Singen ins Binnenland. Fliegt durch das Wäldchen. Nistet dort. Schlüpft. Fliegt von Ast zu Ast. Fliegt über die Grenzen des Wäldchens hinaus. Eine Taube und ein Täuberich. Eine Taube und ein Täuberich fliegen in die Mitte der Gezeiten. Ruhen einen Augenblick im Bug. Das Kind reicht ihnen den Ährenkranz. Sie nehmen ihn in ihre Schnäbel und fliegen weit über die Grenzen des Wäldchen hinaus. Sie künden von der Singflut. Überall, wo ihr Flügel schlägt, heben Menschen den heidnischen Gesang an. Aus heiterem Himmel. Aus dem Bsuch heraus. Wie die Angler am Faulen See erreicht die Flut nicht jeden. Manchem bleibt sie im Hals stecken. Eine Gräte, die im Sprachfleisch hakt. Aber jene, die singen, jene wissen seither, wo sie herkommen. Wo sie hingehören. Gleich, wie weit sie in den Landen verstreut leben. Gleich, wie weit voneinander entfernt. Sie tragen das Kind in sich. Singen sie es, sind sie daheim.

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