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eine Art Anbaugebiet

Fortschreitende Verwandlung II

(eine Entgegnung auf Deserts Voice und die anderen Geschichten über Herrn Koffer von Ines Gerstmann, auf Beiträge von Stephan Ziron und Kai W. Reinschmidt)

Der Mann ging durch das Dorf. Er ging leichten Schrittes, trotz der zwei Koffer. In dem einen Koffer trug er seinen Flohzirkus zu Markte. Der andere Koffer war eine Fundsache. Ein Findelkoffer. Das Adressschildchen am Findelkoffer war schuld daran, dass der Mann den Fußweg durch diese Hügellandschaft auf sich genommen hatte. Jenseits der Bahnhöfe und Busstationen.
Schon lag auch das Dorf hinter ihm. Der Mann war überascht. Das Ausschreiten, das bloße Gehen, war ihm weniger mühsam, als er erwartet hatte. Der Koffer mit dem Flohzirkus hatte zwar sein Gewicht, und auch der Findelkoffer war nicht ohne…aber je länger der Mann schritt, die Füße auf dem Boden abrollen ließ, je deutlicher er spürte, wie er sich trug, je tiefer er beim Gehen in sich versank – desto leichter wurden die Koffer? Nein. Etwas anderes geschah. Etwas löste sich in ihm. Löste sich aus. Eine Regung, Bewegung, Impulskette, ein Fluss von Impulsen eher, wie etwas lang im Innern geborgenes, verborgenes, ungeahntes, altbekanntes… eine Melodie. Unfertig. Eine Melodie, ein Singsang, wie ein Gebet, wie eine Anrufung, eine Tonfolge. Und der Mann, der nur einen Koffer zurückbringen wollte und zu diesem Zweck aus seinem Zug gestiegen war, der Mann, der sonst einen Flohzirkus zu Markte trug, fühlte jetzt neu und beunruhigend eine aus der Herzgegend oder von tiefer her hoch hinaus treibende Kraft. So, dass die Koffer in seinen Händen zu einer Selbstverständlichkeit wurden, die er kaum mehr bemerkte.
Die Melodie….! Diese Melodie – wenn er sie nur singen könnte! Singen…bei der Vorstellung weitete sich der Brustkorb des Mannes, als sollte etwas daraus geboren werden. Unmöglich, der Mann schüttelte den Kopf. “Pfffh,” kam es abschätzig über seine Lippen. Er und singen! Bei dem Gedanken allein sah er das beflissen feinsinnige Gesicht seines Vaters vor sich, der ein Liebhaber des Chorgesanges war. Und die Koffer hatten wieder ihr Gewicht.
Noch ein paar Schritte, dann würde der Mann den Kamm der diesseitigen Hügel erreicht haben und in das Tal schauen können. Dieses Tal – der Mann stellte beide Koffer ab, ihn schwindelte – da war es, das Tal. Es spannte sich tief hinab von hier nach drüben, floss in Wellen zur nächsten Hügelkette empor, wo die Kleinstadt lag. Wo es wieder einen Bahnhof geben würde oder Busse. Und wo vor allem der zweite Koffer sein Zuhause finden sollte. Dieses Tal. So still. Still und weit! Erneut, fast wütend jetzt, warf sich die Melodie in dem Mann auf, dass es ihn schmerzte, kurz und heftig. Am liebsten hätte er geschrieen. Schon öffnete er den Mund – wie zur Probe. Ein “Aaaahhh…” arbeitete sich zu den Halsmuskeln empor – “Aaaahhhhh…” – aber man schrie nicht einfach in der Landschaft herum.
Der Mann rang einen Moment um Atem. Singen? Nein, Singen hatte er noch nie gekonnt.
Wie kam das nur mit einem Mal so über ihn? Und er griff, wie um Halt, erneut nach den zwei Koffern. Dabei sah er unten im Tal eine Bewegung, eine kleine Bewegung nur, im Schatten der Bäume, unter denen wohl ein Bach seinen Lauf nahm. Der Mann hielt den Blick fest auf die Bewegung dort unten gerichtet und machte sich wieder auf seinen Weg.

Frau Schwalbe war gegangen. Es war leicht zu gehen. Endlich. Sie hatte sich gehen lassen. Endlich allem entfliehen, raus, das Weite suchen. So war Frau Schwalbe hier herunter gekommen aus der Stadt. Hier unter den Bäumen hatte sie ihre Füße im wild strömenden Wasser gekühlt. Das Wasser wirbelte um ihre Füße, wie die Liebe selbst.
Früher, manchmal, hatte er ihre Füße massiert. Damals, als er noch unterwegs gewesen war, die meiste Zeit. Ein fliegender Händler war er gewesen.
Frau Schwalbe hatte sich in den fliegenden Händler verliebt. Und er sich in sie. Sie würde mit ihm gehen, hatte sie geträumt. Er würde bei ihr bleiben, hatte er geträumt.

Wie leicht es ihr jetzt fiel, zu gehen, das überraschte sie noch immer. Fort von den Warenlagern. Fort von den Rechnungsbüchern. Fort von den Kalkulationen des Händlers, der jetzt ein Kaufmann geworden war. Mit einem großen Geschäft am Platz nahe der Kirche. Alle aus der ländlichen Gegend kauften bei ihm. Als er noch fliegender Händler war, hatten die Leute seine Großherzigkeit gepriesen. Nun war er sesshaft geworden. War einer geworden, der alles genau wog und zählte, der vorausberechnete und nachtrug, was nachzutragen war. Noch immer galt er als großherzig und längst auch als seriös.
Er hatte sich einen Namen gemacht. “Ein guter Name ist Goldstaub”, pflegte der Kaufmann zu sagen. „Wir haben uns etwas geschaffen”, auch das pflegte er zu sagen. “Wir sind wer geworden.“

Frau Schwalbe ist jemand geworden. Sie wurde die Frau des Kaufmanns. Angesehen von jedermann.
Jetzt wusch ihr das Wasser den Goldstaub von den Füßen. Sie hatte die Fenster und Türen des Hauses geöffnet, bevor sie gegangen war, hatte ihre rote Mähne aus den Spangen und Bändern befreit und war einfach hier her gelaufen. Wie einfach es war, zu gehen. Unter dem Ufergestrüpp hervor duftete die nackte Erde. Und die Frau stemmte sich auf ihre Füße, hob die Arme gen Himmel und wiegte sich leicht in den Hüften und Knien. Bewegung. Fluss. Weichwerden. Dann spürte sie dem Rhythmus nach, ihrem Rhythmus und begann sachte, sich zu drehen, zu tanzen.
Wie damals in der Hochzeitsnacht, als sie getanzt hatten. Getanzt. Ohne Unterlass, bis zum Morgen. Es war wie im Rausch gewesen. Sie hatten ja nun alle Zeit der Welt. Für sich. Ihre biegsamen Körper hatten einander umkreist, einander verstohlen berührt, gefasst, gehalten und wieder gelassen, sie waren eng miteinander im Fluss der Musik verschmolzen, hatten sich aneinander verströmt, sich dann wieder frei gegeben und waren, jeder für sich allein weit geflogen, die Arme ausgebreitet er, die Arme hoch gereckt sie, sich drehend im großen, noch fast leeren Zimmer, die Augen geschlossen, mal die Gesichter dicht ineinander geschmiegt, waren im Blick des anderen getaucht und geschwommen in fremder Welt, waren dabei in sich selbst versunken, mit den Füßen den Boden fassend wieder abgekehrt vom anderen, die Hände noch ineinander verschränkt, seine in ihrer, ihre in seiner. Waren ja längst Mann und Frau. Sie hatten gelacht und geweint, geschwiegen, geredet, sich geneckt und wieder geschwiegen. Bis sie völlig übermüdet zu Boden geglitten waren und in die trockene Hitze des nächsten Tages hineinschliefen, unter einem Laken eng ineinander gerollt wie erschöpfte Katzenkinder.
Und die neugierigen Verwandten hatten am Tag danach verstohlen wissend gelacht, ohne wissen zu können.

Frau Schwalbe tanzte im Schatten der Bäume. Im Takt eines alten Tanzes setzte sie ihre Füße auf Zehenspitzen ins Gras, wiegte sie sich in den Hüften, hoch die Arme zu den Baumkronen gereckt, durch deren Zweige streute der Himmel seine Lichtflecken auf ihr Gesicht. Sie drehte sie sich und summte, drehte sich und summte und drehte sich hinauf in ihren Himmel hinein. Bis sie von dort eine Melodie spürte, nur spürte, nicht hörte. Mit den Fingerspitzen spürte und fasste sie diese Melodie. Und wie auf Schwingen nahm die Melodie sie auf, oder wie der Wind den Flug eines Vogels trägt, nahm diese Melodie sie auf. Die Melodie trug sie, ohne Stimme und doch so rund und voll im Klang, so hoch hinauf schwingend … Frau Schwalbe trat, dem Impuls folgend, aus den Schatten hervor. Sie schritt auf den Weg zu, der von hier hügelan führte.

Frau Schwalbe hatte nichts mitnehmen wollen. Kein Gepäck. Keinen Proviant. Nichts. Sie würde ja noch lange keinen Hunger haben. Und wenn doch, etwas fände sich immer. Und sollte es regnen, ja, sie würde danach wieder trocknen. Sie war unterwegs. Barfuß. In ihrem schönsten Sommerkleid. Die rote Mähne strich sie sich hinter das linke Ohr und spürte schon gar nicht mehr die Mühe der langsamen Steigung, denn von dort oben her trug die Melodie.
Dann sah Frau Schwalbe die Gestalt. Eine ganz und gar schweigende Mannesgestalt. Schon von weitem sah sie dem Mann das Schweigen an. Es umgab ihn wie ein zu großer Mantel. Der Mann kam über den Hügel. Er brachte Schweigen und Schwingung zugleich. Er war die Melodie selbst. Jene Melodie, die Frau Schwalbe in ihrem Tanz gespürt hatte.
Noch war der Mann weit oben auf den Hügeln in der Ferne. Er schien zu schweben, obgleich er von zwei Koffern am Boden gehalten wurde. Das Licht flirrte bereits unter seinen Füßen. Die Koffer aber hielten ihn. Nicht er hielt die Koffer. Hätter er nicht diese Koffer, seine Melodie würde ihn von der Erde reißen unwiederbringlich. Unwiederbringlich war Frau Schwalbe aus den Lagerhallen und Vorratskellern aufgebrochen und näherte sich der Melodie und den Koffern. Die Melodie näherte sich ihr…unweigerlich näherte sich der Mann mit den Koffern. Und sie schritten und schwebten und tanzten aufeinander zu, um sie beide legten sich die Schwingen der Melodie wie Frau Schwalbe nicht anders konnte als dem Mann mit den Koffern ihre Arme um den Leib zu legen zu einer einzigen festen Umarmung, Umklammerung eher, und darin spürte Frau Schwalbe das Gewicht der Koffer im Verhältnis zum Auftrieb der Melodie und wie sich beides in Balance gehalten hatte, bis sie des Weges gekommen war und nicht anders gekonnt hatte, als ihre Arme um diese leibliche Melodie zu legen, damit sie sie mitnähme – vielleicht. Frau Schwalbe wollte fliegen, davon träumte sie. Der Mann wollte seine Balance halten zwischen Himmel und Erde. Nicht fliegen wollte er, er wollte schweben – und wusste es selbst nicht. Aber gegen die Schwerkraft aus Koffern und Frauenleib brauchte die schwebende Balance eine neue Kraft und der Mann legte unweigerlich den Kopf in den Nacken und die Melodie weitete seinen Brustkorb, seinen Hals und öffnete ihm den Mund. Sie drang in ihm nach außen, durchdrang ihn und sang sich aus ihm heraus, diese Melodie, und so hoch hinauf, dass sie beide, der Mann mit den Koffern und Frau Schwalbe dicht über dem Boden auf dem flirrenden Licht….

Der Kaufmann am Platz nahe der Kirche verriegelte sein Geschäft. Und auch vor die beiden Flügel der großen Tür des Warenlagers legte er ein schweres Schloss. „Feierabend“, sagte der Kaufmann und wandte sich um, zu seiner Frau. Er hatte sie kommen sehen, zu Fuß aus dem Tal. „Wo warst du denn so lange?“ fragte er und sah , wie sie an ihren kurzen Haaren strich, links über dem Ohr, wie sie es früher getan hatte, als ihr Haar noch lang und unbändig war. „Tanzen,“ sagte Frau Schwalbe, „ich war tanzen.“ „Bei der Bank war es heute sehr voll, da dauerte eben alles länger.“ sagte die Frau des Kaufmanns. „Du hättest doch den Wagen nehmen können,“ sagte der Mann und verstaute das riesige Schlüsselbund in seiner Aktentasche. „Ich bin geflogen,“ sagte Frau Schwalbe. „Du weißt doch, ich mag den großen Wagen nicht,“ sagte die Kaufmannsfrau. „Und es ist ja auch nicht all zu weit.“ Sie klickte ihre Handtasche auf, um die Bandkauszüge herauszusuchen. Dabei klapperten die flachen Sandalen auf’s Steinpflaster des leeren Platzes. „Barfuß bist du?“ der Kaufmann sah mit gerunzelter die Stirn auf die nackten Füße seiner Frau. „Was dir immer einfällt! – Und überhaupt…-“ missbilligend blickte er in die Weite des Tales unterhalb des Ortes, als wittere er von dort Gefahr. „Hast du diesen Kerl gesehen, vorhin?“ fragte er. „So einer mit Koffern. Zwei Koffer trug er. Er war seltsam. Du solltest nicht allein durch das Tal laufen. Einer, mit zwei Koffern… wer trägt heut schon noch Koffer zu Fuß durchs Land. Wer weiß, wer der Kerl ist und was er im Schilde führt!“ – „Gesang auf dem Wind,“ sagte Frau Schwalbe. „Ein fliegender Händler vielleicht?“ sagte die Frau des Kaufmanns – und schob sich wieder ihr kurzes Haar hinter das linke Ohr, bevor sie gedankenverloren in ihre Sandalen schlüpfte.

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