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eine Art Anbaugebiet

Gracula religiosa

Vorsätze: Nachdem ich den Text geschrieben hatte, flog mir Ulrike Wodners Vogel zu. Nicht bewusst habe ich ihn herbei geschrieben. Er muss sich eingenistet haben – irgendwann.

Wenn das letzte Licht im Mietshaus gegenüber in die Dunkelheit geht, zieht sie die Vorhänge auf. Nie zieht sie sie ganz auf. Spaltbreit lässt sie die Nacht hindurch. Sie weiß, dass es unmöglich ist, die Nacht in ihrer ganzen Größe zu sehen. Sie weiß, dass es möglich ist, jene Größe im kleinen Ausschnitt ihres Fensters zu sehen. Zwischen den Vorhängen. Zwischen den Tagen. Zwischen zwischen. Schwarz fällt die Nacht vom obersten Rand des schmalen Fensterbildes hinab ins Ultramarin. Von dort fließt sie lila hinter den Horizont der Häuser. Mit der nächsten Sekunde, der nächsten Minute, den nächsten Stunden, werden wir den Farben nachlaufen. Wir laufen der Nacht nach. Wir laufen dem Tag nach. Wir laufen der Zeit nach. Wir laufen, laufen, laufen. Wir gehen nach. Aber nichts und niemand geht genau. Immer bleibt ungenau, was wir ergründen, schreibt sie in ihr Nachttagebuch. Immer bleibt ungenau. Nie bleibt ungenau. Genau ist einzig – der Augenblick in der spaltbreiten Nacht.

In der Sternwarte hatte sie sich verliebt in die Nacht. Die Kuppel öffnete sich nur so weit, dass sie durch einen Spalt eintreten konnte und sie mit Kinderaugen durch das Teleskop hinaustreten konnte. In die Nacht, aus dem Tag, aus allem, womit die Zeit sie umgab. Die quälenden Stunden in der Schule vor allem. In kleinen Kreisen war sie durch die Nacht gereist. Hatte sich nahe an all das heran gezoomt, was den Tagen verborgen blieb. Kreis um Kreis reiste sie von Mikrokosmos zu Mikrokosmos durch das All. All das, all das würde sie ergründen, hatte sie sich gewünscht. Keine Sternschnuppe schweifte mit. Mikrokosmonautin würde sie sein.

Doch jetzt ist sie hier  – zwischen Immer und Nie angekommen. Und: dieses großartige, kleine Wort. Eine schmale Brücke aus Papier auf der sie sich fortbewegen kann – hinaus in die spaltbreite Nacht – hinein in die spaltbreiten Zeilen des Textes. Sie liest der Nacht vor. Im Stillen. Sie weiß, die Nacht hört. Zwischen den Buchstaben, Worten bewegen sich beide in Sätzen. Alles kommt in Bewegung. In Bewegung, sagt sie, in Bewegung ist ein schöner Ort. Nachtlandschaft. Sie stolpert. Strauchelt. Fällt beinahe von der Brücke in das weiße Papier. Schwankt zwischen den Zeilen. Ein Wort hat sich getrennt! Eine Silbe hängt rechts am Ende der Zeile an einem Trennstrich. Nur ein kleines Stück muss sie sich nach unten bewegen – muss in die nächste Zeile springen – nach links. Vom Trennstrich zum Bindestrich ist ein Weg auf schmalem Grat. Er braucht Zeit. Auf dem Weg bleibt die erste-letzte Silbe in ihrem Kopf hängen – Beo. Beo und sofort hat sie einen Vogel im Kopf. Beo lässt sich auch nicht verscheuchen, als sie bei der nächsten Silbe unten links angekommen ist. bach gefolgt von tung. Beobachtung. Sie verwandelt sich in Beobeobachtung. Sie wandelt in Vogelbeobachtung in der spaltbreiten Nacht, die gleich dem bach weiter vom oberen Fensterbildrand hinab fließt und ins tung stürzt. Ein Wasser unergründlicher Töne. Wellen in Kreisen. Wellenkreis. Kreiswellen am Grund eines schmalen Wasserfarbenfalls. Deutlich sieht sie den schwarzen Vogel Beo-, deutlich sieht sie ihn oben am Rand des Falls sitzen. Er putzt sich die nachtschwarzen Federn. Ab und zu schaut er zu ihr herüber. Bewegt den Kopf. Er nickt ihr zu und steht still und öffnet den Schnabel und das Blutrot darin fließt ins Dottergelb und sie hört ihn sagen: und, und er folgt dem Fluss der Töne hinab und nimmt sie mit in den Morgen aus Orange und eine Weile schweben sie zwischen Mondin und Morgenröte und bevor sie den Vorhang vollkommen schließt und sich schlafen legt und tung hört sie die letzte Silbe ins Tagwasser plumpsen und sie schläft ein und schläft und in kleinen Kreisen tung: ein Gong, der nachhallt im tRaum.

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