Pages Navigation Menu

eine Art Anbaugebiet

Im Bräutle

Fortsätze angeregt durch die Großmutter von Ulrike Wodner

Herr Koffer fragte nicht, was Orhan mit dem letzten Satz sagen wollte und woher er wusste, dass die Große Mutter seine Musik mochte. Inzwischen trug er Fragen genug in sich und er spürte wieder jene Müdigkeit aufkommen. Gute acht Monate, hatte Orhan gesagt und Herr Koffer zweifelte jetzt nicht mehr daran, dass diese acht Monate gut werden würden. Langsam fasste er Vertrauen zu jenem Mann, den er nicht kannte, der ihn aber offensichtlich verstand, wie es noch kein Mensch vermocht hatte. Zurück im Haus entfachte Orhan ein Feuer im Felskamin, das das Haus schnell in wohlige Wärme hüllte. Während er das Feuer mit Scheiten fütterte, sagte Orhan, dass er, Herr Koffer, etwas essen müssen und vor allem trinken, sonst würde er bald so trocken wie das Heu in seinem Bett, dass er ihn nicht mehr davon unterscheiden könne und ihn am Ende mit dem Frühling auf der Hochebene verteilen würde. Keine schlechten Aussichten, dachte Herr Koffer und aß ein Laib Trockenbrot, das nach Fenchel, Kümmel und Koriander schmeckte. Er bestrich das Brot mit einem Sirup, den Orhan im Frühjahr mit den jungen Trieben der Lärche angesetzt hatte. Er schmeckte gleichermaßen süß und herb und auch bitter. Dazu trank Herr Koffer Tee, der nach Heubett schmeckte. Er konnte kaum noch die Müdigkeit von sich fernhalten. Das Mahl würde ihn für sein Träume stärken, sagte Orhan. Doch bevor er sich schlafen legte, brannte Herrn Koffer doch noch eine Frage auf der Seele.

– Gibt es die Große Mutter in jeder Sprache?

– Nein, sagte Orhan, Attribute wie groß oder klein gibt es nicht in jeder Sprache, aber Mutter, Herr Koffer, eine Mutter hat jede Sprache und jede Mutter eine Sprache. Einige von uns nennen sie Matsu oder Haha oder oder oder. Es gibt so viele Mütter Herr Koffer und das ist ihre Größe, der Plural. Besser kann ich es Ihnen im Augenblick nicht erklären, deshalb nannte ich sie vorhin Große Mutter. Sie werden es verstehen, wenn sie ausgeschlafen sind. Auch Sie finden Ihre Mutter, Herr Koffer.

Er ruschelte sich in das Heu, bis er sich wieder wie in einem Nest fühlte und die Müdigkeit deckte ihn erneut zu. Sie roch nach Sirup, dem Laib Brot, nach Fenchel, Kümmel und Koriander und er hörte Orhan wie aus weiter Ferne sagen, dass er im Bräutle schlafe, es wäre das letzte Fuder Heu, dass sie zum Erntedank hier herauf gebracht hatten

Er fand sich in der Stadt Mercato wieder. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war, noch was er dort gewollt hatte. Er wusste nur, dass er dort nicht sein wollte. Er ging durch die Stände, als suchte er jemanden und kam an den Stand der Frau, die ihm die sieben Feigen verkauft hatte. Jetzt rührte sie in einem Topf. Etwas wie eine dicke Suppe, einen Brei oder Teig. Herr Koffer trat näher, um zu sehen, was sie rührte. Sie rührte eine Acht nach der anderen. Langsam, behutsam, ruhig und sacht. Acht um acht um acht zog sie den Holzlöffel durch den dicken Brei. Dann nahm sie ein Ei und schlug es hinein. In jeden Teig kommt ein ungeborenes Leben, sagte sie und rührte weiter auf ihre unnachahmliche Art. Behutsam müssen wir mit den ungeborenen Leben umgehen, sagte sie, behutsam, behutsam und behutsamer. Sie lachte und zeigte mit dem Holzlöffel auf Herrn Koffers Zylinder. Dann rührte sie eine weitere Acht und gab Herrn Koffer den Löffel, der ihn ableckte. Der Teig kann gehen, sagte er. Die Siebenfeigenfrau erklärte ihm daraufhin, wie er die Stadt Mercato verlassen könnte und wohin er reisen sollte. Der Teig kann gehen, sagte Herr Koffer wieder und ging. Jetzt war er auf dem Bahnhof von Mercato. Dort stand ein Zug ovaler, eierschalenfarbener Waggons. Herr Koffer bestieg den Waggon, der ihm zugedacht war. Er legte sich in das Bett, das darin stand und noch bevor er einschlief, sah er die Siebenfeigenfrau neben seinem Bett sitzen. Jetzt war er vollkommen ruhig. Sie würde dort sitzen, würde warten und ihn wecken, wenn er angekommen war. Es war der Bahnhof der Stadt, von der er einst über alle Berge aufgebrochen war. Doch fand er sich nicht mehr zurecht. Er wusste nicht: Wie nach Hause kommen? Eine Straßenbahn kam ihm der Nummer nach bekannt vor. Als sie hielt, beschloss er einzusteigen. Kurz bevor er die Tür erreichte, fuhr sie los. Herr Koffer sah den Fahrer im Führerhaus. Der schlief. Er rief ihm nach, dass er zusteigen wolle. Der Fahrer erwachte, aber er konnte die Bahn nicht anhalten und sie verschwand um eine Ecke. Ein Bus wartete und Herr Koffer las ein Wort aus seinem Streckennetz, aus dem eine große Vertrautheit zu ihm sprach. Er stieg ein und setzte sich. Der Bus fuhr und fuhr und fuhr und fuhr nicht los. Neben ihm saß die Siebenfeigenfrau und fragte ihn, warum er nicht gehen wolle. Er sah aus dem Fenster und dachte, auch zu Fuß würde er nicht nach Hause finden. Die Stadt war so verändert, als wäre er Jahrzehnte oder länger fort gewesen. Er wünschte sich klein und zusammengerollt in den Schoß der Siebenfeigenfrau. Herr Koffer sprach zu ihr: Bokoku, ich fürchte, ich kann nicht gehen.

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Datenschutzerklärung …

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen