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eine Art Anbaugebiet

Kofferbestimmung

Eine Kofferentomologie zu Auf Koffern von Kai W. Reinschmidt

Als Herr Koffer den Koffer vom Flohmarkt nach Hause trug, ahnte er nicht, was er sich da ins Haus holte. Er stellte ihn zu den anderen Koffern. Er liebte Koffer über alles und hatte eine beachtliche Sammlung zusammen getragen, obwohl er nie selbst auf Reisen ging. Er hatte Hutkoffer, Gitarrenkoffer, Überseekoffer, Schuhkoffer, Rollkoffer, Rollschuhkoffer, ja, sogar einen Kofferkoffer nannte Herr Koffer sein Eigentum. Der war ihm der liebste. Herr Koffer wusste, dass jeder Koffer seine eigene Bestimmung hat. Und weil Herr Koffer, die Koffer so sehr liebte, eignete er jedem Koffer einen persönlichen Inhalt zu. Nur mit seiner eigenen Bestimmung haderte er und wusste nicht so recht, was sein Ding war.

Er entstaubte den Neuankömmling vom Flohmarkt und untersuchte ihn intensiv nach Gebrauchsspuren. Herr Koffer katalogisierte alles sehr genau. Je interessanter die Gebrauchsspuren eines Koffers, je schöner der Koffer. Herr Koffer träumte ab und zu und malte sich aus, wie es zu dem einen oder anderen Kratzer gekommen sein könnte. Oder warum der Griff des Hutkoffers nur noch an einer Niete baumelte. Vielleicht hatten zwei Damen um Koffer und/oder Hut gekämpft, bei einem Pferderennen oder auf einem der Kreuzfahrtschiffe und hatten dabei dem Überseekoffer die Beule zugefügt. Vielleicht waren die Damen unbekleidet… Es gab so viele Geschichten und Träume wie Gebrauchsspuren an Koffern und noch einmal so viele darüber hinaus. Der neue alte Flohmarktkoffer schien seine Geschichte nicht sofort preis zu geben. Aber er reizte. Zuerst war es ein ständiges Jucken im Ohr. Und als Herr Koffer am Abend in der Badewanne bei einem Glas Wein ruhte, meinte er ein Flüstern zu vernehmen. Konnte das am Wein liegen? An einem Glas? Dann wieder klang es wie das Rauschen, wenn er mit dem Kopf im Badewasser untertauchte. Und dann wieder war es wie alles zusammen. Ein rotes Rauschen. Also doch der Wein? Oder das Blut, das in ihm rauschte? Es machte ihn wahnsinnig und er schenkte sich Wein nach. Schließlich hörte er es überdeutlich:

– Es gefällt mir hier zwischen all den Koffern mit dir zu leben. Nur Unterwasser mag ich nicht so sehr. Kannst du das in Zukunft abstellen?

– Wer zum Teufel spricht da?, fragte Herr Koffer

– Ich.

– Wer ist Ich?

– Ich.

– Zeigen Sie sich doch., drängte Herr Koffer

– Geh zum Garderobenkoffer, sagte die Stimme, öffne ihn und sieh in den Spiegel.

Herr Koffer tat wie die Stimme ihm geheißen. Er ging zum Garderobenkoffer und öffnete ihn.

– Sieh hinein!, sagte die Stimme, was siehst Du?

– Mich und das Fenster und das Haus gegenüber und das Fenster im Haus gegenüber und

– Stopp, sagte die Stimme, Du schaust viel zu viel in die Ferne. Geh nah ran an den Spiegel. Und dreh den Kopf so, dass du in dein Ohr sehen kannst.

Herr Koffer tat abermals, was ihm die Stimme geheißen, erkannte aber, dass es unmöglich war, in den Spiegel zu sehen und gleichzeitig in sein Ohr.

– Ich bräuchte Augen an den Seiten, will ich mir auf die Art ins Ohr schauen.

– Hast du keinen Rasierspiegel?, fragte die Stimme.

– Doch.

– Na worauf wartest du?

Herr Koffer ging, schenkte sich auf dem Weg ein Glas Wein nach, holte seinen Rasierspiegel, hielt ihn mit der Vergrößerungsseite so, dass er mit beiden Spiegeln in sein Ohr sehen konnte. Und dann sah er, was zu ihm sprach. Er schenkte sich ein Glas Wein nach. Die Stimme stand am Rand der Ohrmuschel, zückte einen Zylinder und grüßte mit einer leichten Verneigung. Sie trug Lackschuhe mit Gamaschen und einen Frack. Herr Koffer schenkte sich ein Glas Wein nach.

– Ja, ja, aber, aber, stammelte Herr Koffer

– Was aber?, fragte die Stimme am Rand der Ohrmuschel

– Was zum Teufel sind Sie?

– Ich bin Kofferliebhaberin

– Sie sind keine Kofferliebhaberin, sagte Herr Koffer, Sie hocken in meinem Ohr.

– Sag ich doch. Ich liebe Koffer.

– Ich auch, sagte Herr Koffer

– Ich weiß, sagte die Kofferliebhaberin

– Sie sind ein Floh!, rief Herr Koffer

– Und du mein geliebter Koffer.

– Herr Koffer bitte, sagte Herr Koffer und Sie, wir haben keine Brüderschaft getrunken

– Bis jetzt, sagte der Floh und biss in Herrn Koffers Ohr.

– Au!, schrie Herr Koffer

– So, sagte der Floh, jetzt da ich dein Gehör habe, hör mir gefälligst zu. Du musst deine Koffer packen und aus diesem Zirkus fliehen, sonst fressen sie dich auf. Herr Koffer schenkte sich ein Glas Wein nach und schwieg. Er würde dem Floh in seinem Ohr keine Beachtung schenken. Vielleicht würde er ihn auf diese Weise auch zum Schweigen bringen. Oder er würde an einer Überdosis Wein zugrunde gehen. Doch der Floh war hartnäckig. Sie schwiegen sich aus und als sie sich ausgeschwiegen hatten, was einer Art Nüchternheit nahe kam, packte Herr Koffer alle seine Koffer. Bis auf das eine Paar Handschuhe, das er besaß, das gehörte nicht in den Kofferraum sondern ins Handschuhfach. Und auch den Brief, den er in aller Eile geschrieben, tat er in keinen der Koffer. Den gab er der Postfrau, die wiederum tat ihn in ihren Zustellkoffer und stellte ihn, wie es Herr Koffer gewünscht hatte, nach einer Woche seinem Chef zu. Da war Herr Koffer längst mit allen Koffern über alle Berge. Die Handschuhe holte er immer dann aus dem Handschuhfach, wenn er den Hutkoffer öffnete, um den Zylinder aufzusetzen. Den Zylinder setzte er immer dann auf, wenn er den Schuhkoffer öffnete, um Lackschuhe und Gamaschen anzuziehen. Gamaschen und Lackschuhe zog er immer dann an, wenn er den Garderobenkoffer öffnete, um den Frack anzuziehen. Den Frack zog er dann an, wenn er den Kofferkoffer öffnete. Den Kofferkoffer öffnete er immer, um den alten neuen Flohmarktkoffer zu öffnen und der Flohzirkus begann. Aber wer ihm den Floh ins Ohr gesetzte hatte, weiß Herr Koffer bis heute nicht.

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