post its
angeregt durch Angekommen von Peter Grosse
Angekommen denkt sie und weiß im selben Augenblick, dass sie mit dem nächsten Schritt das Wort verlassen wird. Schritt um Schritt verlässt sie Ankommen für Ankommen und betritt ein neues. Eines nach dem anderen. Die Taube hat dicht zu dem Mann aufgeschlossen, der die braunen Schuhe mit den harten Absätzen trägt. Sie würde gern hören, wie seine Absätze in dieser Gasse in St. Tropez klingen. Dass sie hier anders klingen als in Leipzig auf dem Flughafen, hört sie auf ihre Art. Sie hat es gefühlt, sie fühlt es – mit den Füßen. Mit den Barfüßen. Gern würde sie es mit den Ohren hören. Mit eigenen Ohren verlangt es sie seit einer Ewigkeit zu hören. Der Zug der Ewigkeit ist abgefahren, das weiß sie auch, auch weil der Zug nie angekommen war.
Die Taube verlässt die Nähe zu den harten Absätze in St. Tropez. Sie gibt sich dem Hafen und der Stadt hin. Die Wärme in den Straßen ist eine andere als die Wärme in Leipzig. Sie kühlt nie stark ab. Das sagen ihr ihre Füße. Sie sprechen mit den Steinen. Sie ist eine Fremde, weil die Taube fremd ist in St. Tropez. Sie hält den Block Post-Its und die Kugelschreiber in der Handtasche umklammert. Den letzten Zettel muss sie aufheben, um damit in einem Laden einen neuen Block zu kaufen. Zettel und Schreiber darf sie nicht verlieren. Französisch wird sie ihre Bitte um weitere Zettel Papier auf diesem letzten formulieren.
Die Taube trägt viele Sprachen in sich. Nur Artikulieren hat sie nie ein Wort gekonnt. Nicht in Französisch, nicht in Deutsch. Muttersprache sagen sie in Leipzig zum Deutschen. Was ist eine Muttersprache für eine Muttersprache, lässt sie sich nicht artikulieren, fragt sie sich. Französisch ist sie und spanisch und italienisch und innen und… Jede Sprache die ein Mensch in sich trägt, in sich getragen hat, ist eine Muttersprache. Sie betrachtet ihre Hände. Sie liest darin. Ja, in ihnen trägt sie die Sprache, mit der sie formen kann, was zu sagen der Mund nicht fähig ist. Manche verstehen die Sprache der Hände. Auch jene Sprache war einstmals eine Fremde für sie gewesen. Auch die Sprache der Hörenden in Leipzig war eine Fremde gewesen. Ist mit der Zeit wieder eine fremde Sprache geworden. War im Grunde immer eine Fremde für das taubstumme Mädchen. Es hat seit je eine andere Sprache gehört. Eine andere gesprochen.
Das taubstumme Mädchen ist sie heute nicht mehr. Sie ist in St. Tropez. Sie ist am Fuß der maritimen Berge. Sie ist an der Côte d’Azur. Ich bin aufgebrochen, denkt sie stolz. Auf dem Weg zum Briefkasten hatte sie den Mut gefasst, die gewohnten fremden Sprachen mit dem Flugzeug zu verlassen. Sie ist angekommen in dieser einen der vielen Muttersprachen. Im Hafen der azurblauen Küste. Für die nächsten Schritte in eine andere Sprache. Sie zückt das Aufnahmegerät und sieht den Wellen zu, die der Ort schlägt. Sie fasst, sie ist am Meer. Heute ist es ruhig.
In der Herberge klebt sie die Zettel diese Tages in ein Fotoalbum. Am Ende der Tage wird sie alle Zettel dieser Reise in dieses und weitere Fotoalben geklebt haben. Sie wird sich erinnern an jeden Schritt, an jedes Ankommen, an jedes Aufbrechen, an jede Welle und sie wird eine eigene Sprache geboren haben. Eine Muttersprache zu geben, wünscht sie sich mit dem vorletzten Zettel.