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eine Art Anbaugebiet

Reisenotiz

Reisenotiz

Ein Dorf, sage ich, ein Ort. Mitten im Nirgendwo, sagt manch einer. Also reise ich – mitten ins Nirgendwo.
Da heben sich sachte die steinernen Schichten von meinen verdeckten Brunnen und Quellen. So kann ich, plötzlich nachtsichtig geworden, zwischen die Worte sehen.
Ich besuche Trauerhäuser, betrete sie auf Zehenspitzen und finde meinen sicheren Stand.
Ich sehe in Höfe des Friedens, wo die Toten leben, wo an den alten Namen Geschichten ranken. Und lese in Gesichtern der Kinder des Nirgendwo die Zeichen der Kriege.
Der Ort hat gepflegte Stallungen, ehemals. Der Ort hat eine alte Schule, ehemals. Hat ein altes Wirtshaus, ehemals. Der Ort hatte einmal eine Synagoge. Zwei Friedhöfe liegen einander gegenüber auf zwei gleich hohen Hügeln. Dem einen fehlen die Gräber seit fünfundsiebzig Jahren. Dem anderen wird der Platz eng. Die Greise reden nicht gern. Die Kinder erzählen. Und die Enkel, die ziehen fort. Frauen und Männer, Kinder und Greise. Alle haben sie ihre Gaben. Und alles hat bekanntlich sein eigenes Maß. Und jeder ist auf seine Art weise.
Da ist ein Mann, der mit den Bäumen spricht. Ein anderer, der spricht mit den Bienen. Und einer, ein ewig junger, summt und bringt seinen eigenen Klang. Bringt ihn überallhin. Eilig. Sogar die Schleichpfade kennen ihn.
Die weisen Frauen des Ortes sind liebende Frauen. Manch eine spricht mit der Krankheit, dem Alter und schaut durch die Pforten des Todes. Manch eine spricht mit den Tieren und mit den Pflanzen. Eine geht und ruft alle beisammen, wenn etwas schwer wird oder etwas besonders schön ist. Sie halten einander fest. Sie halten vieles aus. Sie halten vieles zurück. In den Höfen die verdeckten Brunnen. Ehemals. Der Ort bekommt das Wasser längst von irgendwo.
Eine der weisen Frauen leiht mir, als ich sie endlich besuche, ein Buch. Das hat, weitab vom Nirgendwo, ihre Tochter geschrieben. Die Tochter ging fort. Die Frau ist geblieben und lebt mit ihrer alten Mutter und ihrem alterslosen Sohn weiter im Ort – und sie leben sogar in dem Buch der Tochter. Der Sohn ist der, der seinen eigenen Klang selbst auf Schleichpfaden bringt. Er ist der, der eilig durch diese Welt läuft. Wie getrieben. Wir selbst sind Getriebene und vertreiben. Vertreiben sogar die Zeit, vertreiben manches, das uns in den Weg kommt. Auch dort, mitten im Nirgendwo.
Die Frau erzählt von ihrem Großvater, den man hatte vertreiben wollen. Das war im Nachbarort gewesen. Der Großvater war geblieben. Trotz der zerschlagenen Türen und Fenster nach dieser einen Nacht damals. Er war geblieben. Und manchmal, nachts, hatte jemand heimlich einen Korb vor die geflickte Tür gestellt. Ein paar Kartoffeln. Etwas Brot. Einmal sogar ein Stück Speck.
Die Frau, die mir erzählt, hat einen Blick, in dem die Freude, tief eingepflanzt, alles hell macht und klar. Auf einem alten Klassenfoto sehe ich die Frau, als sie Kind war. Ihre Freude wirkte damals schon unerschütterlich.
Das Haus der Frau wurde von ihrem Mann gebaut. Jedes einzelne Stück hatte er mit seinen Händen bearbeitet, bis es schön geworden war und sich zu einem Haus fügte, in dem die Weisheit, die Liebe, das Alter, in dem also das Leben und der Tod alle Tage auf die ihnen eigene Art begehen können. Auch der Schmerz wohnt in dem Haus. Alle Tage. Alltag. Der Mann starb. Aber er hatte seine Zärtlichkeit ins Haus gegeben – jetzt wohnt sie in jedem Winkel, jedem Stein, jedem Schwung der hölzernen Geländer. Und die weise Frau wohnt mitten darin wie in seiner Umarmung. Auch der Schmerz wohnt in dem Haus, wie gesagt, alle Tage. Jeder Schmerz, auch der kleinste, will klar und freigelassen sein, damit er etwas Neues werden kann. Und so sagt die Frau mir beim Abschied, dass sie enttäuscht gewesen war, weil ich nicht schon beim letzten Mal zu ihr kam. Und ich danke ihr noch jetzt, dass sie mir das klare Wort mitgab auf den Weg. Dass sie es nicht in sich behielt und etwa wachsen ließ, groß werden ließ zu einem Groll gegen mich mit der Zeit. Nun habe ich es bei mir, ihr Wort, und weiß, ich bin willkommen.
Das Buch der Tochter lese ich während der Rückreise wie in einem einzigen Atemzug. Es ist herausgeschöpft aus den verdeckten Quellen und Brunnen. Und es gibt Zeugnis von den Morden, die unsereins schon denkend verübt, wenn wir, der Angst blind gehorchend, teilen in wert und unwert, in richtig und falsch, in besser und schlechter. Sie erzählt in dem Buch vom Getriebensein. Und sie gibt guten Grund, der Angst in aller Offenheit zu widerstehen.
Sich einander zu erkennen geben, ist ein nährendes, vielleicht sogar heilsames Geschenk. Dankbar kehre ich heim. Wie nach nirgendwohin sonst.
Auf meiner Reise ins Nirgendwo bin ich inmitten. Ich reise wieder.

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