Spiegelhaut – Antwort auf „Vor langer Zeit“ von Carmen Winter
Aus dem Rund seiner Augen sah er, aus der Höhe in die Tiefe, die Finger des Lichtes durch das Wasser greifen. Wobei er weder ‚Licht‘ dachte, noch ‚Wasser‘. Aber er fühlte und sah. Und er sah im äußersten Kreis seines Augenrund sein eigenes Spiegelbild. Sein silberner Rücken. Fließende Bewegung. Über sich, auf der Grenze zum anderen Element, zum brennenden, trockenen Element, das ihn ersticken würde. Er kannte das. Die Narbe an seinem Maul erinnerte ihn.
Er flog in seiner Welt dahin, über den ockerfarbenen Grund. Flog mit dem Strom dahin unter der spiegelnden Haut seiner Welt. Sah sich selbst im Flug aus dem Rund seiner Augen, im Spiegel. Silberglitzer. In der Tiefe schnoberte er über den Boden, dass Wolken von Schlamm und kleinen glitzernden Wesen aufstoben. Er öffnete das Maul und sog alles ein. Es nährte ihn. Wie die Finger des Lichtes. Über ihm leuchteten die silbernen Schimmer seiner Bewegungen. Im Spiegel. Vor dem brennenden dünnen Element.
Dort vorn aber war der Schattenblock über seine Welt gelegt. Auf steinernen Füßen stand er über der Welt des Stromes. Der große Fisch sah diesen Schatten und kannte ihn. Dort war er einmal hinaufgerissen worden, durch die Heilhaut seiner Welt in die andere Welt. In die heiße, brennende, dünne Welt. Er hatte sich am Grund genährt und war plötzlich gestorben. Schmerz. Nur Schmerz. Er hatte sich schreien hören wie noch nie. Er war aus sich herausgerissen worden … er hatte mit aller Kraft dagegen gehalten, hatte mit den Flossen geschlagen und sich gekrümmt, um sich zu verankern in sich selbst, sich festzuhalten in seinem Element. Und war noch einmal davon gekommen. Lange hatte er dann gelegen, eingewühlt im Grund, und hatte den Schmerz weggesummt. Das hatte ihm niemand gezeigt, wie man den Schmerz aus dem Körper summen kann. Aber er hatte es plötzlich gewusst. Hatte gesummt. Bis er fort war, der Schmerz. Bis er selbst, der Fisch, wieder allein wohnte in seinem silbernen Leib und bis er wieder fliegen konnte mit dem Strom. Sachte zuerst. Und kaum gewagt hatte er, sein Maul zu öffnen. Das Licht war gekommen und war gegangen. Dunkelheit. Helligkeit. Mehrmals. Bis alles geheilt war. Nur diese Wulst am Maul war geblieben. ‚Narbe‘ – dachte der Fisch nicht – aber er fühlte die Erinnerung sobald er den Schattenblock sah, der über seine Welt gelegt war. Nie ließ er sich durch den Schatten treiben.
Jetzt aber, plötzlich, löste sich ein anderer Schatten dort oben aus dem großen dunkeln Schattenblock. Dieser Schatten war kleiner, hatte Flossen an beiden Seiten und hinten wohl zwei. Er war groß und schwebte oben im brennendheißen dünnen Element. Der Fisch sah sie als Schattenwesen, diese anderen. Er sah sie manchmal am Rand seiner Welt stehen, wo das Licht nicht mehr ins Wasser griff. Sah sie durch die spiegelnde Haut zwischen dort und hier. Manchmal warfen sie etwas in seine Welt. Dinge, die das Spiegelbild hart brachen. Dem wich er geschickt aus. Manchmal warfen sie etwas in seine Welt, das nährte ihn. Manchmal warfen sie etwas in seine Welt, das brachte den Tod. Dieser hier warf sich selbst. Schwebte noch oben und dann splitterte das Spiegelbild, das silbern funkelnde Spiegelbild splitterte und zerbrach und zerfloss bevor es sich wieder schloss. Denn die Welt des Fisches hatte eine gute Heilhaut.
Das Schattenwesen sank in die Tiefe und brachte viele silberne Perlen mit sich, die strudelten um seinen Leib und zerrannen. Es war kein Schatten, dieses Wesen, es war ein Leib. Es sank hinab zum Fisch. Es glotzte ihn an. Es sank wie leblos. Es gehörte hier nicht her. Dieser Leib würde sterben, so wie der Fisch dort in der anderen Welt sterben würde. Etwas zog ihn, den Fisch, zu diesem Wesen und er fühlte und erinnerte… was er noch nie…es war so fern. Und ehe er wusste wie, stieß er dieses Wesen an mit dem Kopf, mit dem ganzen Leib stieß er und schob er. Er war ein großer Fisch, so groß beinahe wie das Schattenwesen. Und wie er an ihm stieß und schob, an diesem Leib aus blasser weicher Haut, wusste der Fisch, dieses Wesen musste wieder nach oben. Und er stieß so hart, dass das Wesen seine Flossen, die anders waren als die des Fisches, um ihn legte und sich an ihn klammerte. Dass es den Fisch beinahe auf den Grund drückte. Aber er schraubte sich nach oben, dem Spiegelbild entgegen. Darin sah er sich. In dem silbrig gleißenden Spiegelbild sah er sich und dieses Wesen auf seinem Rücken. Und plötzlich spürte er: Seinesgleichen. Und ein Schmerz füllte ihn aus, als habe er etwas verloren… vor langer Zeit. Eine Erinnerung. Verloren. Sogar die Erinnerung hatte er verloren. Das Schattenwesen. Seinesgleichen. Vertraut. Und er schob diesen schweren Leib hinauf bis dessen Kopf im brennend dünnen Element war. Gleißendes Licht brach durch den Spiegel. Das Wesen griff nach dem Rand der Welt und zog sich und schob sich selbst wieder dorthinaus. Und der Fisch verharrte noch. Er verharrte. Sekunden. Er sah das Schattenwesen stehen und wanken am Rand seiner Welt, im flirrenden Licht. Und er, der Fisch, war dieses eine Mal durch den Schattenblock getrieben. War durch den Schatten geraten, ohne dass er gestorben war, wie er schon einmal gestorben war, beinahe, hier. Über ihm beruhigte sich die Spiegelhaut seiner Welt. Er sah aus dem äußersten Kreis seines Augenrund die fließenden Bewegungen seines silbernen Rückens im Spiegel. Aus dem äußersten Kreis seines Augenrund sah er alles. Das Licht. Und wie es in seine Welt griff.