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eine Art Anbaugebiet

Zu meiner Zeit

Schwer schleppt sie sich und diese Tasche. ‚Wenn nur der Wind nicht wär’,’ denkt die Frau, ‚der schlägt einem heut hart ins Gesicht.’ Aber ihre Jacke ist warm und raschelt. Nur die Kapuze rutscht immer wieder vom Kopf. ‚Wind, Wind! Fröhlicher Gesell’ denkt die Frau ein Kinderlied, denkt dann, dass er wohl heute böse ist der Wind und dass sie nun genug davon hat. Trotz der warmen Jacke. Woher hat sie die eigentlich, diese warme Jacke? ‚Zu meiner Zeit,’ denkt sie, ‚zu meiner Zeit gab es solche Jacken nicht.’ Irgendwer hat sie ihr geschenkt. Dick und warm und raschelnd. Ausgestopft wie eine Bettdecke. Und weich.

Die Frau mit der schweren Tasche hat genug vom Wind. Die Frau mit dem schweren Körper geht in die Bahnhofshalle. Dort sind Bänke. Dort ist es warm. Die Hallen früher waren zugig. ‚Zu meiner Zeit hat man Bahnhofshallen nicht geheizt.’ Pflanzen stehen hier in Kübeln. ‚Irgendwer muss die gießen, jeden Tag’, denkt die Frau und steckt prüfend einen Finger in die Erde. Trocken ist die nicht.
‚Himmel und Menschen’, denkt die Frau. Stimmengewirr, nicht zu laut. Und sauber ist es hier auch. ‚Zu meiner Zeit…’- das denkt die Frau so oft, dass es ihr manchmal selbst auffällt. ‚Altes Weib’, denkt sie dann. Mit der Zunge fährt sie über den nackten Zahnkamm. Wo nur wieder die Zähne verkramt sind? Irgendwo in der Tasche. Die Tasche kann sie hier gut abstellen. Hier bei den Pflanzenkübeln wird niemand darüber stolpern.
Sie atmet tief ein und aus. Endlich. Einmal ausruhen. Hier bleibt auch die Kapuze auf dem Kopf sitzen. Kein Wind schlägt nach ihr. Und den Ohren wird wieder warm werden.
Der schwere Körper sackt auf die Bank. Auf den anderen Bänken sitzen auch Menschen. Warten vielleicht auf den Zug. Oder auf jemanden, der nur rasch etwas einkaufen ging. Einkaufen gehen sie alle hier. So viele Läden im Bahnhof heutzutage. ‚Zu meiner Zeit…’- denkt die Frau. Den Schal zieht sie sich vor den Mund. Der Mund ist innen ganz kahl. ‚Schön ist anders’, denkt die Frau und sieht den hastenden Menschen zu. Gut gekleidet sind sie. Nicht so dick verpackt wie sie selbst. Aber sie ist ja auch viel draußen. Wo sonst.

Die Leute hier essen im Gehen. Das schlägt auf den Magen, hatte ihre Mutter immer gesagt. ‚Iss langsam Kind, das schlägt dir sonst auf den Magen.’ ‚Wer langsam isst, ist schneller satt.’ auch so ein Spruch der Mutter. Immer stand zu wenig auf dem Tisch.
Dann, irgendwann, stand wieder viel auf dem Tisch. Endlich wieder. Da war es aber ihr eigener Tisch. Weit weg von der Mutter. Da hatte sie selbst die ersten Kinder. Wo die wohl heute abgeblieben sind? Keines hat sich mehr gemeldet. Und der Kerl? Ist der nicht längst gestorben. Irgendwer hatte ihr das mal erzählt.
Wo hat sie nur die Zähne verkramt. Sie schaut auf die große Tasche. So eine bunte Plastiktasche. Tragen sich schlecht, solche Taschen. Aber es geht viel rein. Alles was die Frau braucht geht da rein. Gestreift ist die Tasche. Auch die hat ihr irgendwer gegeben. Heut gibt es von allem so viel. Wie die warme Jacke. Hier ist es warm. Aber noch nicht warm genug, um die Jacke auszuziehen. ‚Draußen, nachher, wirst du dich erkälten.’ hatte die Mutter früher gesagt. ‚Zieh dir doch drinnen die Jacke aus.’
Diese Müdigkeit. Plötzlich schießt sie einem in die Knochen, wie flüssiges Blei. Und die Frau fühlt sich so schwer. Es tut direkt weh. ‚Zu meiner Zeit…’- denkt sie und sieht all die Leute eilen, essen, in Taschen kramen, miteinander lachen, telefonieren, hasten, hierhin und dahin. Und wird selbst immer schwerer. Und sinkt wie Blei in die Tiefe. ‚Ach’, denkt sie ‚nur ein Weilchen ruhen.’ Du brauchst nur zu ruhen, hatte ihre Mutter immer gesagt, wenn sie keinen Mittagsschlaf halten wollte. Später, in der Druckerei, in der sie ewig an dem schwarzen Dreck zu putzen hatte, ein Leben lang hatte sie da zu putzen gehabt, da hatte es einen Frauenruheraum gegeben. Da gab es aber diese Müdigkeit noch nicht. Bis in die Knochen… die Frau kuschelt sich in Kapuze und Schal. Dahinter ist es ihr ganz wohl. Und ruhig. Dahinter ist es warm und ruhig. Ruhen. Frauenruheraum.

Das Kind im Wagen quengelt. Es muss müde sein. Ist ja auch viel los hier. Und draußen der kalte Wind. Die junge Frau steht schlank und groß in einer Ecke der Bahnhofshalle und schaut nach draußen auf die Anzeigetafel für Tram und Busse. Ihr Bus kommt erst in zwanzig Minuten. Die Frau schaukelt an dem Wagen, beugt sich hinein und schaut ihrer Tochter ins Gesicht. „Wir sind ja bald zuhause,“ sagt sie, und streichelt dem Kind die dicken roten Babywangen. Die Kleine hält kurz inne, dann verzieht sie ihr Gesicht wieder. Das Quengeln wird schärfer. „Bist müde mein Herzle, ach, ich weiß. Na komm.“ Und die junge Frau kramt in der Tasche, die sie im Korb unter dem Wagen mit sich führt. Sie holt ein buntes, fest gewebtes Tuch heraus und ein Gestell aus festem Polster. Sie legt sich das Tuch um und hebt das schreiende Baby achtsam aus dem Wagen. Die Kleine riecht so gut. Und, nein, eine neue Windel braucht sie nicht. Das hat also Zeit bis zuhause. „Bist du müde, meine Süße.“ Mit sicherem Griff wickelt sie das Kind in das Tuch und bindet den Knoten fest. Die Frau spürt den kleinen Kinderleib an ihrer Brust. Das Schreien wird sanfter. Wird wieder zum Quengeln und ebbt schon ab. Ach, es ist schön. Die Frau lächelt, lächelt einer anderen Frau zu, die hier auch wartet, etwas abseits und die ihr zusieht. Unter dem Tragetuch ruhen die kleinen Fäustchen auf den Brüsten der jungen Mutter. Der schwere Kopf des Kindes sinkt ihr entgegen. „Nun wart noch einen Moment.“ flüstert die Frau konzentriert und legt sich das feste Polster ebenfalls um. So steckt die Kleine sicher und warm. Und das Köpfchen ist gehalten. Sie ist schon wieder ganz still, die Kleine. Hat die Augen geschlossen. Die Frau unwillkürlich, wiegt sich in den Knien, wiegt mit dem Körper ihr Kind. Dann schaut sie zur Uhr. Noch immer eine viertel Stunde. Sie kann noch eine Runde laufen. Dann schläft die Kleine auch besser. Die Frau summt ein Schlaflied mit hoher Stimme, während sie ihre Tasche unter dem Kinderwagen verstaut und den Wagen langsam durch die Bahnhofshalle schiebt, etwas seitlich neben dem Strom der Menschen. Was für ein Gedränge! Die Leute, alle so geschäftig.
Die Frau schaut drüben zu den Bänken vor dem Biomarkt. Blumenkübel mit Palmen drin. Vor den Bänken stehen zwei Uniformierte und zwängen ihre Hände in blaue Latexhandschuhe. Als müssten sie etwas ekliges berühren. Vielleicht einen Hundehaufen wegräumen. Die junge Frau summt ihrem Kind ein Lied. Einer der Sicherheitsleute beugt sich zu etwas unförmigem hinab. Da liegt wer. Liegt auf einer Bank.
Vor der Bank stehen zwei lederne Hauslatschen, ordentlich nebeneinander. Und daneben solch eine gestreifte große Plastiktasche. Reisende haben solche Taschen manchmal, oder Menschen, die so aussehen, als seien sie von wer weiß wo geflüchtet.
Sie spürt den leichten Zug, der sogar hier in der Halle herrscht. Unweigerlich fasst sie in den Kinderwagen und holt ein leichtes Wolltuch heraus, das sie sich selbst um die Schultern, vor allem aber dem Kindergestell über legt. So ist die Kleine geschützt. Die Frau macht das alles ohne den Blick von den Sicherheitsleuten zu wenden. Und summt weiter ihr Schlaflied. Und wiegt ihr Kind. Menschen gehen und lachen und haben ihr Leben. ‚Wie am Schnürchen,’ denkt die junge Frau, summend, ihr Kind wiegend. ‚Alles geht wie am Schnürchen.’
Die Hand des Sicherheitsmannes, in blauem Latex, rüttelt dort an einer wulstigen Schulter. Rüttelt und rüttelt.
Vielleicht ist da wer gestorben, denkt die junge Frau und will rasch fort. Kann aber nicht. Steht, schaut, wiegt ihr Kind, summt ihr Lied.
Wieder und wieder rütteln die blauen Handschuhe und immer heftiger an dieser wulstigen Schulter. Endlich eine Bewegung. Die junge Frau ist erleichtert. Summt und wiegt ihr Kind.
Eine alte Frau: dicker Leib, weißgelbe Haare, die über ein eingefallenes gutmütiges Gesicht rutschen und von krummen runzligen Fingern vergeblich unter die Kapuze geschoben werden. Die alte Frau schaut die Männer erstaunt an. Sie sagt etwas, wobei ihre Zunge, von keinem Zahn aufgehalten feucht über eingefallene weiche Lippen rutscht. Die Männer verstehen nicht. Einer hält mit seinen blauen Handschuhen die Frau weiter bei der Schulter, wie einen Delinquenten. Und zugleich wie etwas ekliges. Die junge Frau summt und wiegt selbstvergessen ihr Baby, das unter dem leichten Tuch warm eingepackt sanft schläft.
Die Alte drüben schüttelt erstaunt den Kopf. Der Mann in Uniform wird lauter. „Hausregeln“ sagt er überdeutlich. „Das verstößt gegen die Hausregeln. Sie können hier nicht…- Was heißt, nur ein bisschen ruhen?! Das ist gegen die Hausregeln!“

Die junge Frau schaut nach dem Bus. Noch vier Minuten. Sie greift den Kinderwagen mit einer Hand, die andere hat sie am schlafenden Kind. Schiebt sich seitwärts vorbei an den Kauflustigen, an der Dekoration, den hastenden Reisenden, durchs Stimmengewirr.
Dann sitzt sie im Bus. Der Wind lässt Papierfetzen durch die Straßen tanzen. Die Kleine reibt sich im Schlaf mit den Fäustchen die Augen. Die junge Mutter schaut auf ihr Kind. Und sieht plötzlich das andere Gesicht. Zahnlos und erstaunt lächelnd, die feuchte Zunge, die beim Sprechen über die Lippen rutscht. Und die Männerhand in blauen Latexhandschuhen an der dick verpackten Schulter einer alten Frau.

1.4.2015

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