Pages Navigation Menu

eine Art Anbaugebiet

Tag 0

Fortsätze

Es wird hell, es wird dunkel, es wird hell. Wie oft Tag und Nacht wechselten, weiß Henrie Heid nicht, als er wach wird. Es ist Tag. Er braucht ein Weile, zu sich zu kommen. Doch fühlt es sich seltsam an, zu sich zu kommen. Henrie Heid hat nicht das Gefühl, je bei sich gewesen zu sein. Bis zu diesem Augenblick. Jetzt war er hier, allein in dieser Hütte, neben dem toten Freund. Er konstatiert alles sachlich. Diese Klarheit! Wohltuend. Ob sie mit Wahrheit und Wirklichkeit im Bunde steht, kann Henrie Heid nicht sagen, aber wenn diese glasklare Klarheit bliebe, wären ihm Wahrheit und Wirklichkeit gleich. Sollten andere versuchen, sich darin zurecht oder Unrecht zu finden. Die Welt in dieser Hütte ist überschaubar.

Er sieht Orhan am Boden liegen. Henrie Heid fühlt nichts. Nein, nichts, kein Puls. Er löst seine Hand von der Halsschlagader des Freundes. Orhans Gesicht ist glatt und glänzend wie Marmor. Wäre die leichte Nuance von gelb nicht, könnte denken, wer Orhan so liegen sieht, er sei ein Statue seiner selbst. Ebenso kalt fühlt er sich an. Marmor. In seinen Gesichtszügen liegt immer noch das Ungesagte, als Orhans Hand nach Herrn Koffers oder Henrie Heids Hemdkragen gegriffen hatte. Wann der Übergang vom Einen zum Anderen stattgefunden hat, ist nicht mehr festzustellen – nur der Tod. Ohne Zweifel, Orhan hatte ihm etwas sagen wollen. Dafür war jetzt keine Zeit mehr. Zeitloser Raum. Henrie Heid weiß kein Weiter, aber es beunruhigt ihn dieses Mal nicht. Er beschließt, die Klarheit solange wie möglich zu bewahren. Inventur! Er wird Inventur machen, wird alles, was sich in der Hütte befindet, penibel auflisten, wie er es stets mit seinen Koffern gemacht hatte. Inventur hilft beim Denken, Listen helfen der Orientierung und er wird am Ende wissen, ob genug Essbares vorhanden ist. Finden wird sich auch, was er mit dem toten Freund zu machen hat. Hier in der Hütte wird er nicht lange bleiben können. Die Verwesung wird einsetzen. Auch an ihr ist kein Zweifel, sie ist naturgegeben. Henrie Heid sieht sich in der Hütte um, wie er es zuvor nie getan hat. Kramt in den Regalen, zwischen den Büchern, in den Schränken neben der Kochmaschine. Nichts. Wer war dieser Mann? Wer war Orhan? Ein Freund, auch daran zweifelt Henrie Heid nicht, nur weiß er nicht, woran er das Wort festmachen soll. Er findet nichts in der Hütte, das etwas über ihn verrät. Kein Bild, keine Papiere, nur der Aktenkoffer und der Schnipsel Papier auf dem Boden mit dem unvollständigen Satz, der Herrn Koffer aus der Umlaufbahn geworfen hatte und das Ungesagte um Orhans Mundwinkel. Ein leichtes Zittern setzt ein. Henrie Heid weiß, wenn er sich nicht an die Arbeit macht, würde alle Verwirrtheit der Welt über ihn hereinbrechen, würde ihn unter einer Lawinen begraben. Die Klarheit wäre fort, die Flucht würde Besitz von ihm ergreifen, wie sie es immer getan hatte. Aber hier und heute kann er nicht fliehen. Er ist eingeschlossen im Schnee. Längst liegt er unter einer Lawine begraben, die jeglichen Schnee entbehrt. Er spürt, er würde verrückt, fände er keinen Weg. Er muss sich an die Arbeit machen, sich daran zu schaffen.

Nirgends Papier auf dem er beginnen kann. Er setzt mit einem Messer an, in die Wände zu ritzen, bis sein Blick auf die abgegriffenen Buchrücken fällt. Er nimmt das, welches zuoberst liegt. Es ist schwer. Es bietet viel Raum. Henrie Heid legt es neben Bogen und Geige auf den grob gezimmerten Tisch. Er beginnt, in dem alten Kräuterbuch zu schreiben.

Tag 0

Nach dem Mord. Vor der Inventur. Der tote Freund. Er kann nicht bleiben. Keine veritablen Werkzeuge. Schaufel und Spitzhacke! 1. Weg schaufeln. 2. Den toten Freund ins Freie bringen. 3. Ihn in die Schneewehen legen. 4. Der Fels ist zu hart. 5. Die Geige schweigt. 6. Die Saite schwingt. 7. Tag 1: Fortfahren mit dem Same-Day-Essay.

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Datenschutzerklärung …

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen